Rot und Schwarz doppelt

Brief an Frau Heike Baehrens,
Kirchenrätin und stellv. Vorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg:

Betreff: S21 - Ein Versuch, Zukunftsfähigkeit zu definieren

Sehr geehrte Frau Baehrens,

aus verschiedenen Quellen habe ich unlängst erfahren, daß eine Werbebroschüre für S21 auch einen Beitrag von Ihnen enthält. Mal abgesehen davon, dass - meiner sicherlich subjektiven Meinung - Kirchenvertreter nicht in die Werbung eines privatwirtschaftlichen Unternehmens gehören, möchte ich Ihnen, wenn Sie erlauben, einige Überlegungen zu der Zukunftsfähigkeit dieses Projekts nahelegen.

Wir sind uns sicherlich einig, dass ein ausschließlich rückwärts gerichteter Blick nichts Positives sei. Auch, dass die Stadt Stuttgart sich weiterentwickeln soll und muss, keine Frage! Aber wenn ich mir einige Kriterien für Zukunftsfähigkeit bei dem Projekt S21 in der vorgesehenen Form anschaue, finde ich so gut wie gar nichts. Lassen Sie mich das näher ausführen.

Vielleicht können Sie mir darin zumindest teilweise zustimmen, dass Zukunftsfähigkeit u.a. Eigenschaften wie Erweiterbarkeit, Anpaßbarkeit an technische Entwicklungen, in diesem Fall bessere und intelligente Integration von Verkehrmitteln, geeignete Maßnahmen zum Klimaschutz und Kunden- bzw. Bürger-, i.a. Menschenfreundlichkeit aufweisen sollte. Nun, wie sieht es aus damit beim Projekt S21?

1. Erweiterbarkeit
Dies wird durch den unterirdischen Bau für alle Zeiten verhindert. Wie soll das auch möglich sein? Alles, was jetzt oberirdisch neu gebaut werden sollte, abreißen und noch einen Betontrog bauen? Den jetzt geplanten Betontrog einreißen? Wegen vielleicht 2-3 zusätzlich benötigten Gleise nochmal 10 Jahre Baustelle, nochmal Milliarden? Meinen Sie wirklich, die 8 Gleise werden für alle Zeiten genügen?

2. Wartbarkeit und Anpaßbarkeit
Das wird wohl nur in sehr engen Grenzen möglich sein, sei es evtl. neue EU-Richtlinien bez. Stromstärke und Frequenz, sei es anderes, wie vielleicht weitergehende Automatisierung. Schon die Instandhaltung der gesamten Anlage wird viel schwieriger und aufwendiger sein als bei einer oberirdischen Anlage, somit auch kostspieliger.

3. Intergration von Verkehrsmitteln
Dies wird erheblich erschwert, ja verschlechtert. Wie Sie vielleicht wissen, dürfen z.B. Dieselloks nicht in den Tunnel fahren, was die direkten Anschlußmöglichkeiten in Stuttgart erheblich beschränkt (Bp. Pendolino aus Tübingen). Der Busbahnhof wird verlegt, es wird keine unmittelbare Umsteigemöglichkeit geben, auch dies eine Verschlechterung. Auf den 8 Durchgangsgleisen werden kaum viele Regionalzüge fahren können, zumal hier - unverständlicherweise - sogar der Gütertransit laufen soll, der jetzt außerhalb Stuttgarts abläuft.

4. Klimaschutz
Sollte ich das noch näher ausführen, was in diesem Zusammenhang die mindestens ca. 300 Bäume bedeuten, große Bäume in voller Kraft? Und wenn es nur das wäre - aber sogar die Verwaltung der Stadt Stuttgart (ich habe es aus erster Hand erfahren) zweifelt daran, dass die verbleibenden Bäume überleben werden. Der Grundwasserpegel muss nämlich mit ganzen 5 Metern abgesenkt werden, die restlichen Bäume werden buchstäblich am Tropf hängen, an Rohrleitungen. Sicher, es wurden Berechnungen angestellt - aber erinnern Sie sich vielleicht noch am Sommer 2003, wo so vieles verdorrt und gelitten hat? Soll wirklich diese im Kontext der Klimaschäden und der Luftverschmutzung immer wertvoller werdende Bestand wirklich kaputt gemacht werden? Und ich möchte hier nicht darauf eingehen, was die Wahrung der Schöpfung (ein christlicher Wert) und die Verpflichtung dazu gebieten würde.

Hierher gehört übrigens auch der Energieverbrauch, der auf jeden Fall deutlich größer wird als bei einem oberirdischen Bahnhof. Denn alles, was unterirdisch ist, muss belüftet und beleuchtet werden, und zwar ständig. Und wieviel Energie die Rolltreppen und Aufzüge verbrauchen werden, so sie denn in ausreichender Kapazität gebaut und funktionieren werden, das mag ich mir nicht vorstellen.

5. Menschenfreundlichkeit
In der jetzigen Form ist der Bahnhof für alle Menschen gut zugänglich. Man kann ebenerdig ins Gebäude und ebenerdig ein- und aussteigen und vor allem umsteigen. Im neuen Bahnhof wird es diese Möglichkeit nicht geben, alle Reisenden, ob jung oder alt, ob gebrechlich, ob mit Kindern, mit Gepäck oder mit körperlicher Behinderung werden auf Rolltreppen und Aufzügen angewiesen sein. Vielleicht sind Sie öfters mit der bahn gefahren, haben Sie darauf geachtet, wie oft Aufzüge und Laufbänder fürs Gepäck stillstehen? In welchem Zustand sie sich befinden? Wieviele Menschen die Aufzüge fassen können? Glauben Sie wirklich, reibungsloses Ein-/Aussteigen und ein schnelles Umsteigen so ohne Weiteres möglich sein werden? Haben Sie mal beobachtet, wie es im Sommer aussieht, wenn die Züge vor allem Richtung Süd- und Osteuropa sich füllen? Meinen Sie wirklich, solche Menschenmassen mit soviel Gepäck mit ein paar Aufzügen bedienen zu können? Oder wieviele Leute ein- und aussteigen, wenn morgens und frühabends die "Business-Züge" aus/nach München, Frankfurt oder Hamburg ankommen bzw. abfahren? Ich bin öfters gefahren und weiß, es dauert mindestens 10-15 Minuten, bis sich ein solcher Zug leert, 3 Minuten sind schier Wunschfantasie. In diesem Zusammenhang: Haben Sie im Werbevideo auch nur eine Familie mit Kindern und Urlaubsgepäck sehen können? Man erblickt nur schlendernde Leute auf den Treppen ohne jegliches Gepäck. Sie meinen vielleicht, das sei Nebensache angesichts des grandiosen Projekts - aber für wen sind Bahnhöfe da, wenn nicht für die Menschen, Tausende an einem Tag? Soll ich noch erwähnen die besondere Sorge, die eine Institution wie die Diakonie für Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen haben sollte?

Vielleicht nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit und überlegen Sie sich diese Fragen abseits von Werbung und großen Worten. Ich maße mir nicht an, zu sagen "Kehren Sie um", aber ich möchte Sie bitten, halten Sie inne und schauen Sie die Realität an. Und ich möchte hier auch nicht darauf eingehen, was auf den freiwerdenden Flächen entstehen wird (sicherlich nicht bezahlbare Wohnungen und Kinderspielplätze, deshalb fliegt man nicht nach Cannes zur Immobilienmesse), auch nicht auf die finanziellen Aspekten, oder wie es sich verhält mit den mehrheitlich getroffenen Entscheidungen von gewählten Volksvertretern. Sie wurden seinerzeit nicht wg. S21 gewählt sondern aus zahlreichen anderen Gründen und Motivationen, das Projekt hat nur bei den letzten Wahlen eine Hauptrolle gespielt - und _dieses_ Ergebnis sollte Ihnen zu denken geben. Sie dürfen gerne auch ausrechnen, welchen Anteil von der gesamten erwachsenen Bevölkerung der Stadt, die vom Projekt wußte, die über 61.000 Unterschriften bilden.

Mit freundlichen Grüßen
Emilia Maxim, Stuttgart